Ein Science-Fiction-Tagebucheintrag
„In einer Welt, in der man nur noch lebt, damit man täglich roboten geht, ist die größte Aufregung, die es noch gibt, das allabendliche Fernsehbild.“
Die Toten Hosen, „Alex“
Liebes Tagebuch!
Wir befinden uns den 1095zigsten Tag des Lockdown und ich habe das Gefühl, dass ich durchdrehe! Corona existiert bereits seit drei Jahren und ich kann mich an keine Zeit vor dem Lockdown erinnern. Während meine Mutter und ich von zu Hause arbeiten, stört mein kleiner Bruder die ganze Zeit. Von Papa weiß ich gar nichts mehr. Der ist weg, bevor ich aufstehe und kommt ganz spät von der Arbeit, wenn ich schon schlafe. Mein ganzes Leben zieht an mir vorbei.
Ich besitze kein Leben mehr oder habe verlernt es zu leben. Die einzigen Personen, die ich kenne, sind mein Bruder und meine Mutter. Das Highlight der Woche ist, wenn meine Mutter und ich zum Einkaufen fahren. Dort sehe ich mittlerweile aber auch kaum noch Leute, weil sich alle zuhause verbarrikadieren. Single bin auch auch genau seit drei Jahren, was alles noch langweiliger macht. Ich kann mich nur noch vage daran erinnern, dass ich vor Corona mal einen „Crush“ hatte, aber ich weiß nicht mal mehr, wie er aussah oder wie sein Name war.
Meine Lieblingsbeschäftigung ist, mich mit meiner Mutter über die Werbung im Fernsehen lustig zu machen. Ich habe schon 5 Serien auf Netflix durchgeguckt und gefühlt alle Filme, die es auf Netflix gibt. Auf social media schreibe ich irgendwelchen Leuten, die sich vor Corona mal meine Freunde genannt haben.
Ich weiß schon ganz genau, wie ich mich in der ersten Klassenarbeit nach Corona fühlen werde: wie Neil Armstrong, als er das erste Mal den Mond betrat. Aber immer, wenn ich denke, die Schulen öffnen wieder, wird der Lockdown verlängert.
Ich bedanke mich jetzt schon mal offiziell bei Wikipedia, Google, Pringel und copypaste für die Unterstützung im Homeschooling. Mir ist vor kurzem aufgefallen, dass ich neuerdings zwei Mal in der Woche die Tintenpatrone wechseln muss. Ich komme gar nicht mehr mit den Wochentagen zurecht. Es gibt nur noch gestern, heute und morgen.
Langsam macht sich in mir der Wunsch breit, in die Schule zu gehen, bevor ich in Rente gehe.
Früher hat man Schule geschwänzt, indem man einfach nicht hingegangen ist. Das neue Schwänzen bedeutet: Mikro und Kamera aus.
Manchmal glaube ich, dass sich, wenn ich aus Langeweile fernsehe, bald der Fernseher von alleine abschaltet, weil er seit Corona einen Vollzeitjob hat. Eigentlich wollte ich mit dem Babysitten anfangen, aber wo sollen die Eltern denn hingehen, wenn alles zu ist?
Abgesehen davon, dass ich nur noch im Schlafanzug herumlaufe, ist mir alles zu klein, was in meinem Schrank liegt und ich frage mich, ob ich wirklich mal so dünn war. Ich würde ja online bestellen, aber wofür? Damit ich mit den neuen Sachen vor meiner Mutter „Laufsteg“ spielen kann? Letztens habe ich etwas Merkwürdiges in meinem Schrank gefunden, meine Mutter vermutet, sie habe es mir für „die Zeit nach dem Lockdown“ reingelegt. Aber was bitte ist ein BH? Ich werde es herausfinden…
Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, liebes Tagebuch.
Bis morgen am Tag 1096 des Lockdowns.
Deine Maya
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